Donnerstag, 9. Juni 2011

Der Künstler

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Ich war noch ein Kind. Es war spät in der Nacht. Ich schlief. Als der Mond auf seinem Höhepunkt in dieser Nacht stand, erwachte ich aus einem bösen Traum. Vor meinem Bett saß jemand. Ich konnte anfangs nur seine Silhouette erkennen, sie wirkte nicht sehr bedrohlich, leicht abgerundet. Trotz der unheimlichen Schwärze und Kälte die sie umgab, hatte ich keine Angst, vielleicht, weil sie noch so distanziert war von mir und der Realität. Ich starrte eine Weile in diese unbekannte Fazination.
Als diese eine Weile vorbeiging, es schienen Stunden gewesen zu sein, derweilen aber nur Minuten, näherte sich diese Silhouette und begann gleichzeitig zu reden. "Du bist genau, wie ich dich erschuf. Jedes Detail ist perfekt an dir widergespiegelt." Die Gestalt trat ins Mondlicht und die Silhouette verwandelte sich in eine reale Form. Es war ein junger Herr, etwas hager und scheinbar nicht sehr vermögend. "Beinahe nach meinem Ebenbild bist du, aber zur Perfektion habe ich dich besser geschaffen!", seine Stimme klang, trotz seines orchestralen Inhalts, sehr monoton, beinahe gelangweilt, beinahe nicht vorhanden. "Bist du Gott?", fragte ich in meiner kindlichen Naivität. Der junge Herr begann zu lachen. Das Geräusch war eine Mischung aus Trockenheit und Sehnsucht nach Gesellschaft. Es war mehr ein Wehklagen, als ein freudiger Ausruf der Erheiterung, als wenn er selbst die Wahrheit nicht wusste. "Nein, mein Junge, ich denke nicht, dass ich ein Gott bin, auch wenn es viele glauben. Ich bin nur ein Künstler. Ich bin ein Maler, Zeichner, ein Geschöpf, dass aus Phantasie geboren wurde und von ihr lebt." Während er redete hatte er ein Lächeln auf dem Mund, aber seine Augen wirkten müde und verweint. "Wirst du mich fressen?" Der junge Herr wirkte mir nicht bedrohlich, aber diese Frage war mir damals die einzige noch zu stellende, damit mir die Angst vor ihm genommen werden konnte. "Warum sollte ich vernichten, was ich hervorbrachte. Lange stand ich vor dieser leeren Wand und fand nichts, was meinen inneren Drang an Verwendung der Phantasie hätte zähmen können. Doch du entwichstest meinen Farben, meinem Pinsel. Heute stehe ich das erste und wohl letzte Mal vor dir und kann dich betrachten. Mein Meisterwerk." Stillschweigen sog ich diese Worte in mir auf, auch wenn ich sie nicht verstand. Heute weiß ich, wer vor mir stand. Es war kein Gott. Es war kein Monster. Es war der Maler des Lebens. Der Zeichner des Herzschlags. Ein Künstler im Universum. Er war die Phantasie, von der alles Leben heimlich träumt, weil diese Phantasie uns doch erschaffen hat. Mein Künstler hat sich offenbart und ich warf ihm bei unserer einzigen Begegnung mehr Vorwürfe als Komplimente vor müden Füße. Der junge Herr verschwand in dieser Nacht beinahe so, wie er erschien. Er verschwand langsam im Dunkel, bis er nur eine Silhouette war, und ich schlief wohl ohnmächtig ein, als wenn ich nie wach gewesen war. Der Mond stand immernoch auf seinem Höhepunkt in dieser Nacht.
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